Redebeitrag (4/7) vom 23.01.21 – Migrantifa Berlin

Am 23.01.21, haben sich etwa 200 Menschen versammelten, um dem im Knast Moabit Ermordeten Ferhat Mayouf zu gedenken. Ihr findet alle Redebeiträge auf unseren Blog. Hier der von Migrantifa Berlin:

Liebe Angehörige von Ferhat,
liebe Hinterbliebene und Weggefährt*Innen von Ferhat,
liebe Gefangenen,
liebe Mitstreitende im Kampf gegen Rassismus,
liebe Geschwister im Islam und Liebe Geschwister im Geiste,

zunächst einmal möchten wir euch unser tiefes Beileid aussprechen und unsere Trauer bekunden über den schmerzhaften Verlust unseres Bruders. Und von all den Worten, die Sprache uns zur Verfügung stellt, drehen und winden wir uns, um die richtigen Worte zu finden. Doch wie sollten wir in der Lage sein, die Leere zu fassen, die zurück bleibt, wenn wieder ein Mensch diesem rassistischen System zum Opfer fällt und das Schweigen der Verantwortlichen so laut ist?

Wie auch Oury Jalloh, so wie Amad Ahmad, so ist auch Ferhat Mayouf bei lebendigem Leib in seiner Zelle verbrannt! Im besten Falle haben die so genannten „Sicherheitsbehörden“ versagt und noch vielmehr steht die starke Befürchtung im Raum: Es war Mord! Vorsätzlich! Feige! Heimtückisch! Und wir schwören euch, wir schwören allen rassistischen Mörder*Innen da draußen – ihr werdet mit euren Taten nicht davon kommen.

Uns wird suggeriert, es handle sich um Einzelfälle – das sagen uns Politiker*innen, Beamt*innen, Polizist*innen und Richter*innen nach Hanau, nach Halle, nach Kassel, nach Marwa El-Shirbini in Dresden, nach dem jahrelangen NSU-Terror, nach Alberto Adriano. Wir werden im besten Falle nicht ernst genommen in unseren Forderungen nach Aufklärung. Doch meist ist die Wahrheit viel abscheulicher, denn es wird vertuscht, gelogen und oft werden migrantisierte Menschen gar selbst von Staat, Sicherheitsbehörden und dem juristischen Gefüge beschuldigt. Ferhat Mayouf musste sterben, weil wir in einer rassistischen, patriarchalen und kapitalistischen Struktur leben, in der nur bestimmte Menschenleben zählen. Ferhat Mayouf war kein Einzelfall – all das hat Struktur.Wir wissen das. Und wir wissen auch, dass auf den Staat kein Verlass ist, weil er Teil des Problems ist. Nicht zuletzt deswegen haben wir uns als Migrantifa entschieden, und selbst zu organisieren, zu kämpfen. Und erinnern heißt kämpfen. Und tagtäglich aufs Neue nicht zu vergessen heißt, tagtäglich aufs Neue diesen Kampf zu gewinnen.Die Gewalttätigkeit dieser mörderischen Architektur unserer Geschichte findet sich auch in der Substanz dieses Gefängnisses wieder, denn eure Stimmen – liebe Gefangenen – werden nicht gehört und nicht ernst genommen. So wie Ferhats Klagen über Depressionen nur mit Isolation beantwortet wurden; so wie Ferhats Schreie nicht gehört wurden als er in Todesangst um Hilfe schrie. Generell sind Knäste psychologisch und seelsorgerisch massivst unterversorgt, insbesondere aber mit muslimischen und mehrsprachigen Seelsorger*innen – die im übrigen nur unter dem Banner von so genannten “De-radikalisierungsprogrammen” zugelassen worden sind. Dieses Justizsystem ist nicht darauf ausgelegt, Menschen mit Würde zu behandeln und ihre Probleme nachhaltig zu lösen. Sie ist ein System, dass auf Bestrafung, Abschreckung, klare Hierarchien und maximale Kontrolle beruht. Um Menschen hörig zu machen und sie für das grenzenlose Profitstreben Weniger zu verwerten. All dies und vielmehr ist Teil der Gewalt, die hier tagtäglich stattfindet. Und diejenigen, die die Macht in diesem System haben, sind sich zu fein und zu feige, um sich auf physische Auseinandersetzungen einzulassen. Stattdessen nutzen sie die Instrumente der Gewalt, bei denen sie sich die Hände nicht schmutzig machen.Sie berufen sich auf vermeintlich für alle gleich geltenden Gesetzestexte und -paragrafen und verstecken sich hinter vermeintlich allgemeingültigen Konzepten wie „Recht und Ordnung“ oder „Sicherheit“. Ihre Sicherheit ist aber nicht unsere Sicherheit, denn in diesem rassistischem Systembedeutet sie für uns Schikane, Überwachung Entmenschlichung, Folter, Inhaftierung, Abschiebung, Push-Backs und Todesgefahr. Rassismus führt dazu, dass nicht nur verhältnismäßig mehr als Migrant*innen oder Geflüchtete gelesene Menschen kontrolliert, für Bagatelldelikte inhaftiert und in Abschiebecamps gesteckt werden. Sondern das Risiko, in Haft umzukommen, ist für uns auch ungleich höher. Unsere Genoss*innen von DiC sprechen davon, dass seit 1990 mindestens 179 von Rassismus betroffene Menschen in Haft gewaltsam umgekommen sind! Rassismus tötet! Knäste töten! Dieses System vom Wegsperren, von Bestrafung und tödlicher Repression zeigt uns, dass wir die Frage nach tatsächlicher Sicherheit gesamtgesellschaftlich angehen müssen. Was ist ein Verbrechen? Was zählt als Straftat? Wer ist kriminell und wer sind die Terroristen?Nach jeder rassistischen und tödlichen Gewalt will am Ende aber keine Person verantwortlich gewesen sein, denn die Mühlen der Bürokratie bringen nur gleichgültige, empathielose und kaltschnäuzige Beamt*innen hervor. Diese Struktur finden wir nicht nur innerhalb des Knastsystems. Unterdrückerische, rassistische uns gewaltvolle Verhältnisse finden sich in allen Facetten unseres Lebens und der Gesellschaft. Im Knast sind diese Verhältnisse aber noch extremer, sodass es noch wichtiger ist für uns, die hier draußen sind, in aktiver Solidarität mit den Gefangenen zu stehen! Knäste und die damit einhergehende Isolierung sind das härtste Mittel des Staates, um
Identitäten und auch politische Kämpfe zu brechen. Seid also gewiss: Wir lassen uns nicht spalten! Wir stehen hier für euch, und auch für uns!Zum Ende unserer Rede möchten wir euch allen und uns selbst noch einmal ins Gewissen reden: Kämpft! Kämpft überall wo ihr nur könnt, gegen Rassismus, gegen Ausbeutung, gegen dieses postkoloniale rassistische System. Für einen gerechten Zugang zu Bildung, Ressourcen, Gesundheitsversorgung, Bewegungsfreiheit, Wohnraum – denn nur das macht uns wirklich alle sicher! Und stellt euch darauf ein, dass dieser Kampf in unserem eigenen Innersten und ebenso in allen Arenen stattfinden muss. Ob ihr nun kämpfen werdet oder nicht: Schmerz, Leid, Trauer,
Frust, Verzweiflung, Hoffnung, Mut, Freude, all dies meine lieben Geschwister, ist
ohnehin Teil unserer Existenz. Am Ende ist die Frage nicht, ob wir all diese Gefühle
und Zustände durchleben werden, sondern die Frage wird sein, wofür wir sie empfunden haben? Ebenso wird sich diese Welt weiterhin verändern, wie sie schon immer in Bewegung war und die Frage wird sein, welcher Teil der Veränderung wir gewesen sein werden? Wie unsere Schwester Audre Lorde schon sagte: Your silence will not protect you – euer Schweigen schützt euch nicht.

Also schließt euch zusammen, organisiert euch und übersetzt eure ‚Überzeugungen in
Taten‘, ob in uns selbst, in der eigenen Familie, in den eigenen Communities, in
eurem Kiez, in dieser Stadt, in diesem Land, auf diesem Kontinent und weltweit.
Danke für eure Aufmerksamkeit – Yallah Yallah – Migrantifa

Den Aufruf zum 23.01.21 findet ihr hier und andere Redebeiträge findet Ihr auf unserem Blog